Die Unfallquote sinkt, die Lebensqualität steigt, die Menschen leben gesünder, und das urbane Umfeld wird schöner. Gleichzeitig zeigen zahlreiche Beispiele, dass der lokale Handel nicht darunter leidet, wenn die Menschen mit dem Rad vors Geschäft fahren. In New York an der Pearl Street hat man nach der Verkehrsberuhigung 50 Prozent mehr Handelsumsatz gemessen. Was hindert Deutschland daran, sich schneller zu wandeln? Dr. Stefan Carsten wundert sich über die Trägheit zwischen Bodensee und Sylt.
Herr Carsten, aus Sicht eines Geografen, wie weit sind wir denn in Sachen Mobilitätswende?
Ganz am Anfang, wahrscheinlich könnte man sagen, wir haben noch gar nicht angefangen. Das sieht man ja an den Fördermitteln und an den Töpfen, die vom Bundesverkehrsministerium zur Verfügung gestellt werden. Es werden lächerlich astronomische Summen in das System Auto gesteckt, was uns in jeder Hinsicht schadet, was der Wirtschaft schadet, was der Gesellschaft schadet, was der Zukunft schadet. Und es werden homöopathische Mittel in Fahrrad und in die sonstigen Bereiche investiert. Und das muss sich natürlich schleunigst ändern, wenn wir wirklich ernsthaft über die Verkehrs- und Mobilitätswende nachdenken wollen. Die politischen Entscheider brauchen ein halbes Jahr, um das ÖPNV-System auf ein 49-Euro-Angebot umzustellen. Man sieht, dass auch hier der Gedanke, Zugang zum ÖPNV, überhaupt noch gar nicht gegriffen hat. Eine Tankstelle verändert pro Tag sieben, achtmal ihre Preise und der ÖPNV braucht ein halbes Jahr, um ein Ticket auf 49 Euro umzustellen, weil wir immer noch in Fahrkartenautomaten denken.
Muss das Thema mit Regulation und mit staatlicher Alimentierung funktionieren, oder bekommt es auch genügend Triebkraft von unten heraus?
Leider nein. Der Großteil der deutschen Bevölkerung ist nicht bereit, aus Umweltgedanken heraus, tatsächlich auf ihr Auto zu verzichten. Du siehst ja auch, dass Deutschland im Bereich Elektromobilität große Defizite besitzt.
Und du siehst aber auch, wenn den Fahrradfahrern oder wenn den Menschen Raum zur Verfügung gestellt wird, durch Umwidmung von Straßenraum, indem dann plötzlich die Randparkplätze wegfallen und da eine drei Meter breite Fahrradspur ist, dass die Leute bereit sind, das System auszuprobieren und mit dem Fahrrad zu fahren. Wie während Corona. Und dass das auch heute immer noch genutzt wird.
Ich wohne in Berlin-Mitte. Es ist unfassbar zu sehen, wie viele Fahrradfahrer hier gerade unterwegs sind, seitdem wir ansatzweise Frühling haben. Das heißt, es werden von Jahr zu Jahr mehr, wenn du ihnen Raum zur Verfügung stellst, aber nicht, indem du nur darüber sprichst.
Das heißt, es braucht Veränderung, es braucht die richtigen Rahmenbedingungen. Das kann Regulation auf der einen Seite sein, das kann aber auch das Anbieten von einem attraktiven, öffentlichen Raum sein.
Wir stecken da im Moment so ein bisschen fest in so einer Art Henne-Ei-Problem. Dadurch, dass wir den Raum frei machen, entsteht keine Fantasie, bei potenziellen Wechslern, wie das dann funktionieren kann oder wie es sicher sein kann. Und umgekehrt genauso, da der Druck aus dem Markt nicht stärker wird, fühlen die Städteplaner das auch nicht so gewaltig, dass sie dafür Geld freimachen.
Ja, sehe ich genauso. Ich habe gestern im Bayerischen Rundfunk über München gesprochen. Der Hauptbahnhof in München wird jetzt umgebaut, und die haben dort sage und schreibe 3000 Fahrradstellplätze vorgesehen und sind total stolz drauf. Diese Zahl ist so lächerlich niedrig, die ist total irrelevant. Aber das sind Zahlen, die von Planern gerechnet werden. Das sind Hochrechnungen, das sind Prognosen, die glauben, dass es einen Bedarf für 3000 Stellplätze am Münchner Hauptbahnhof geben wird. Dieser Hauptbahnhof wird dann 2030, 2031 eröffnet, und wahrscheinlich 5 Minuten später sind die 3000 Stellplätze reserviert und ausgebucht, und 5000 weitere Fahrradfahrer stehen da und fragen sich, wo soll ich mein Fahrrad jetzt sicher abstellen. Ein Fahrrad, was immer teurer und immer hochwertiger wird.
Es sind auch unsere Verfahren, Verkehr in die Zukunft zu planen. Sie basieren auf ganz anderen Zusammenhängen, nämlich auf dem Prinzip der industriellen Stadt, wo es ausgereicht hat, eine Straße zu planen und zu bauen, und die Folge sind wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Das ist das klassische Modell. Ich glaube, in dem Modell arbeiten noch sehr viele.
Das neue Modell basiert auf der Wissens- und Informationsgesellschaft, und sagt: Urbane Lebensqualität ist der relevanteste Einflussfaktor. Das heißt, wenn ich urbane Lebensqualität schaffe, eine hohe Aufenthaltsqualität, eine Neuverteilung des öffentlichen Raumes, dann werden die Menschen das nutzen. Und das sehe ich an Fahrradbrücken in Kopenhagen, genauso wie an Straßen, die in Deutschland umgewidmet werden, in Hamburg, Berlin oder in München. Plötzlich hast du viel, viel mehr Fahrradfahrer, als das Modell dir augenscheinlich ausgerechnet hast.
Bis das sich in den Universitäten verändert hat, wo die Menschen ausgebildet werden, das dauert in Deutschland anscheinend sehr viel länger als in den Niederlanden oder in Skandinavien.
Wir können nicht linear planen, weil wir an der Schwelle zu einem Bruch stehen.
Und das macht sich daran fest, dass wir vor 20 Jahren vielleicht fünf Verkehrsmittel hatten. Das eigene Auto, das eigene Fahrrad, den ÖPNV, ich konnte zu Fuß gehen. Vielleicht gab es schon stationäres Carsharing. Ein Taxi gab es noch. Das war alles. Heute haben wir 30 Optionen. In Berlin, Hamburg, Köln, Düsseldorf. In Hannover, Augsburg oder Nürnberg haben wir vielleicht 25 Optionen. Bildet sich das irgendwo im Stadtbild ab? Die Menschen nutzen Scooter und sie nutzen sie auch immer nachhaltiger. Ich bin einer, der dafür plädiert, dass auch beizubehalten. Alles hat sich verändert im Bereich Mobilität und dem gesellschaftlichen Anspruchsdenken. Nur unsere Straßen sind noch genauso wie vor 60 Jahren.
"Es ist unfassbar zu sehen, wie viele Fahrradfahrer hier gerade unterwegs sind, seitdem wir ansatzweise Frühling haben. Das heißt, es werden von Jahr zu Jahr mehr, wenn du ihnen Raum zur Verfügung stellst, aber nicht, indem du nur darüber sprichst."
Wo fällt Ihnen das persönlich auf?
Überall. Aber ein spannendes Beispiel sind Tankstellen. Ich habe Total beraten und am Tag danach wurde offiziell kommuniziert, dass das gesamte deutsche Tankstellen-Netz von Total verkauft wird. Die Tankstelle von heute ist vielleicht der Mobilitäts-Hub von morgen. Oder der Service-Hub.
Gibt es in Deutschland gute Beispiele?
Ich finde die Radstraßen ja schon wirklich super. In Berlin hat jetzt die erste Fahrrad-Tiefgarage eröffnet, im Friedrichshain. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was in der Fahrrad-Community auf LinkedIn plötzlich abgegangen ist. Boah, sieht das toll aus. Das ist ja wie in den Niederlanden. Kann ich mir das mal angucken. Es geht langsam los.
Und was viel, viel spannender ist: Die Immobilien werden jetzt nach anderen Maßstäben zertifiziert. Während früher ein Neubau einer Immobilie mit Platin zertifiziert wurde, wenn es viele Autostellplätze im Keller vorhanden waren, geht es jetzt um Stellplätze für Fahrräder, Ladestationen und Cargo-Bikes. Wenn die Bauherren Geld von der Bank bekommen wollen, müssen sie Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, die andere Anforderungen an die Mobilität stellen.
Das heißt auch, dass sich Städte verändern, das ist ein Treiber fürs Fahrrad. Die Nachhaltigkeitspolitik und Rechtsprechung verändern sich, was ein massiver Treiber fürs Fahrrad ist. Die Investitionskriterien verändern sich, auch dies ist ein Treiber fürs Fahrrad. Also ich sehe tatsächlich nur Treiber, die sich positiv aufs Fahrrad auswirken.
Aber es geht doch nicht nur ums Rad. Es geht auch um andere Mobilitäsansätze.
Ja, jetzt könnte man das Damoklesschwert Autonomes Fahren ansprechen. Es wird in Deutschland immer wegdiskutiert, aber es ist bereits da. Es funktioniert sehr gut. Und es ist viel sicherer als der Mensch, der hinter dem Steuer sitzt.
Ist das jetzt gut oder ist das jetzt schlecht? Ich sage mal ganz offensiv und optimistisch, da können wir auch unseren Straßenraum neu denken. Kein Auto überfährt ein Kind. Es bleibt einfach stehen. Jedes spielende Kind kann damit den ganzen Autoverkehr lahmlegen.
Und genauso kann ein Fahrradfahrer mitten auf der Autostraße fahren und einen Rattenschwanz an Autos hinter sich herziehen. Und da kann keiner hupen, weil es keine Hupe gibt. Aber klar: Autonome Shuttles sind natürlich auf der anderen Seite das große Risiko für den ÖPNV.
Aber das passiert doch nicht auf Knopfdruck. Wir haben viele Jahres der Mischformen vor uns.
Genau, vollkommen richtig. Ich spreche jetzt auch nicht von den nächsten fünf Jahren, sondern das wird dann jetzt zehn, zwanzig Jahre dauern. Wie gesagt, die ersten Systeme gibt es bereits. Im Rhein-Main-Gebiet sind die ersten ÖPNV Level 4 Shuttle unterwegs, allerdings wohl noch mit Sicherheitsfahrer. In San Francisco, in Austin, in Houston fahren die bereits ohne Sicherheitsfahrer.
Aber ich spreche jetzt nicht davon, dass wir in zehn Jahren nur noch autonom fahren. Aber ich spreche davon, dass wir in vielleicht 40 Jahren als Mensch nicht mehr fahren dürfen.
Im ländlichen Raum geht es schneller. Da bringen Robocabs wirklich enorme Vorteile.
Es gibt aktuell um die 90 Testflotten in Deutschland für Rufbusse. Diese fahren dann nicht mehr nach Fahrplan, sondern die ruft man per App oder per Telefon einfach an. Die werden den ÖPNV schon sehr, sehr stark revolutionieren, denn plötzlich gibt es Mobilität an Orten, wo es früher keine Mobilität gab. Technisch und regulatorisch ist das überhaupt kein Problem.
Scooter sind im Moment sehr umstritten. Erfolg oder Misserfolg?
Ich finde, sie sind auf dem Weg, zu einem Erfolg zu werden. Ja, sie werden missbraucht. Ja, sie haben hohe Unfallzahlen. Sie gibt es aber auch erst seit sechs Jahren. Ich glaube, wir müssen erstens die Räume und Anwendungen verstehen, wie wir sie einbinden und wie wir sie reglementieren. Ich bin schon traurig, sage ich ganz offen, dass das positivste Beispiel in Europa, Paris, die Scooter-Flotten jetzt verboten hat. Es war die aufgeräumteste Stadt, die man sich vorstellen kann. Jeder Scooter stand an seinem Haltebügel. Und auch jedes Fahrrad steht am Haltebügel, weil sie Technologien genutzt, die das Abstellen nur am Haltebügel erlaubt haben. Es gibt aber auch über 10.000 Haltebügel.
In Deutschland beschweren sich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, ohne irgendetwas zu unternehmen.
Ausserdem werden Scooter mittlerweile immer nachhaltiger auch in Pendelstrecken eingesetzt. Die Anbieter arbeiten jetzt mit Sensoren, um herauszufinden, ob da zwei Leute drauf sind oder einer. Die arbeiten mit Apps, um zu gucken, ob du betrunken bist oder nicht. Also alle arbeiten jetzt an unterschiedlichen Entwicklungen. Es ist nicht schwer, da eine positive Entwicklung zu erkennen.
Bike-Sharing kann für die Radbranche auch zum Problem werden.
Ja, das denke ich schon. Ich habe ja auch ein eigenes Fahrrad, natürlich. Aber natürlich nutze ich trotzdem Bike-Sharing, weil es total attraktiv ist. Wenn mir plötzlich die Tram wegfährt oder zu spät kommt und ich trotzdem zum Zug muss, dann steht da ein Fahrrad, natürlich nutze ich das. Und das mache ich gar nicht so selten.
Und da werden sich die Menschen fragen, genauso wie bei Dance und wie bei Swapfiets: Brauche ich denn mein eigenes Fahrrad? Und vielleicht habe ich mein Liebhaber-Fahrrad fürs Wochenende, und greife unter der Woche tatsächlich auf solche Sharing-Fahrräder zurück.
Muß sich deshalb der Radhandel darauf einstellen, wieder mehr in Service zu denken?
Ich glaube, das ist gerade so ein historischer Bruch. Wir sind ja jetzt auf einem höheren Niveau in den Verkäufen durch Corona angelangt und da pendelt es sich jetzt auch wieder ein. Aber diese Menschen verlierst du auch ganz schnell, wenn die merken, dass ich das Fahrrad nicht reparieren kann.
ATU ist eine Kooperation mit Fahrrad.de eingegangen und hat gesagt, alle Kunden von Fahrrad.de, bei uns könnt ihr euch das Fahrrad einstellen lassen und bei uns könnt ihr den Platten reparieren lassen und die Kette. Oder was ist, wenn ein Autohändler in das Thema einsteigt?
Das klingt nach einem plausiblen Szenario. Aber ist es wirklich auch plausibel, dass E-Bikes Teil des Stromnetzes werden, wie Sie es angeregt haben?
Ich bin ja immer naiv und ich dachte, ich schlag das einfach mal vor.
Guck mal, das ist so ein Thema, was auch in Deutschland total unterbeleuchtet ist. Deswegen finde ich das Thema spannend. Ich habe vor 15 Jahren drei Geschäftsmodelle bei Daimler entwickelt und dem Vorstand vorgeschlagen. Das eine ist car2go geworden, das andere ist moovel geworden und das dritte, da haben alle gesagt, das wird es niemals geben. Niemals. Und das war Vehicle-to-Grid.
So, und jetzt habe ich es in diesem Jahr wieder aus der Versenkung geholt. Im Nutzfahrzeugbereich hat das Riesenpotenziale. Die Autos stehen das ganze Wochenende auf den Raststätten, wow, was für Energiequellen. Schulbusse, Riesenpotenziale. Private PKW auch spannend, wenn du plötzlich dein Ferienhaus damit versorgst oder es einfach nur als Netzstabilisierung dient. Ich habe das einfach nur weitergedacht. Also Fahrradakku. Es ist vielleicht ein Spaß, aber vielleicht steckt dort auch ein Fünkchen Wahrheit drin.
Was kann man tun, damit das ein bisschen schneller vorangeht?
Positive Beispiele zeigen, positive Bilder erzeugen. Es gibt ja dieses tolle Beispiel hier von Freunden in Berlin, die die Stadtautobahn, die ja gerade verlängert wird, als so eine Art Klima-Oase skizziert haben, visualisiert haben. Hier gibt es dann Hochregale, da können Pflanzen gezüchtet werden und dann kann man die Solarenergie nutzen und so weiter. Einfach andere Bilder in die Köpfe der Menschen bringen.
Wir reden ja leider immer nur über Dystopien. Wir reden ja immer nur, wie schlimm es alles wird. Aber keiner berichtet davon, was das für wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale hat und was das eigentlich für positive neue Welten sein könnten, wenn wir an einer Veränderung arbeiten. Das stört mich massiv an diesen ganzen Debatten.
Dr. Stefan Carsten
Dr. Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Stadtgeograph. Er war Projektleiter in der Zukunfts- und Umfeldforschung der Daimler AG in Berlin und konzipierte dort neue Mobilitätsdienste wie car2go und moovel. Aktuell ist er u.a. Beirat des Bundesverkehrsministeriums für "Strategische Leitlinien des ÖPNVs in Deutschland“, der IAA Mobility in München und des Reallabors Radbahn in Berlin. Seit 2019 veröffentlicht er in Kooperation mit dem Zukunftsinstitut den Mobility Report. Er arbeitet mit diversen Akteuren der Mobilitätswelt im In- und Ausland zusammen: mit der Fahrradbranche, ÖPNV-Unternehmen, der Automobilindustrie sowie Städten und Gemeinden. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt und arbeitet in Berlin.